S. Haas u.a. (Hrsg.): Die Zählung der Welt

Cover
Titel
Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert


Herausgeber
Haas, Stefan; Schneider, Michael C.; Bilo, Nicolas
Reihe
Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte 32
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
261 S., 25 SW-Abb.
Preis
52,00 €
URL
von
Gerrendina Gerber-Visser, Hist. Institut, Abt. Schweizergeschichte, Universität Bern

Seit Ende November 2019 kann das Bundesamt für Statistik (BfS) der historisch interessierten Öffentlichkeit eine neue Dienstleistung anbieten: Es veröffentlicht die Daten der Volkszählungen in der Schweiz von 1850 bis 2015 auf seiner Webseite in einer einheitlichen Tabelle und, unter Berücksichtigung verschiedener Kategorien (Konfession, ausländische Wohnbevölkerung usw.), auch mittels Visualisierungen auf interaktiven Karten (https://www.census1850.bfs.admin.ch/de/). Dieser Präsentation der Daten ging eine sorgfältige Aufbereitung voraus (zum Beispiel mussten die Veränderungen der Gemeindegrenzen berücksichtigt werden). Derartige Quantifizierungen und statistische Erhebungen bieten der Geschichtsforschung ihre notwendige Datenbasis. Dabei darf aber nie vergessen werden, dass Statistiken immer auch Wirklichkeit konstruieren: Bereits die Wahrnehmung von Problemen und die Bildung von Kategorien tragen ihrerseits zur Konstruktion von Realität bei.

In der «Kulturgeschichte der Statistik» von Nicolas Bilo, Stefan Haas und Michael C. Schneider geht es in erster Linie um diesen zentralen Aspekt, aber auch um die kulturelle Praxis und die öffentlichen Aushandlungsprozesse, die der Genese von statistischen Gesellschaften und Büros vorangingen. Der Band enthält elf Beiträge, die an einer Tagung im September 2015 an der Universität Göttingen präsentiert wurden. Obwohl das Buch im Untertitel eine Kulturgeschichte vom 18. bis 20. Jahrhundert verspricht, behandelt es vor allem den Zeitraum von ca. 1850 bis 1960. Das 18. Jahrhundert und die frühe deutsche Universitätsstatistik, damals noch in der Lehre zur «Staatsbeschreibung oder Staatenkunde» subsumiert, von der sich der Begriff «Statistik» ableitet, werden nur marginal erwähnt. Erfreulicherweise nimmt der Tagungsband aber nicht nur Europa in den Blick (6 Beiträge), sondern auch China (2), die Türkei (1) und die internationalen Bemühungen um vergleichbare statistische (Wirtschafts‐)Daten (2).

Statistiken entstehen in unterschiedlichen Zusammenhängen, oft verbunden mit dem Zweck, rationale Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Den Einfluss von statistischen Erhebungen auf die Verwaltungspraxis zeigen die Beiträge von Franziska Hupfer über die meteorologischen Statistiken, die sich zum Beispiel bei den wasserbaulichen Massnahmen in der Schweiz auswirkten, und von Christa Kamleithner, die darlegt, wie Statistiken der Hygienebewegung und der Sozialtopografie die Planung im Städtebau in Berlin beeinflussten. Axel C. Hüntelmann befasst sich mit dem Einfluss von Medizinalstatistiken auf die Gesundheitspolitik. Die Einrichtung einer staatlichen Medizinalstatistik im Deutschen Kaiserreich eignet sich ausgezeichnet um aufzuzeigen, wie die Statistik als Herrschaftsinstrument (im Sinne Foucaults) funktionieren sollte. Anfänglich kämpften die Initianten allerdings mit uneinheitlichen Begriffen und Kategorien und einem fast enzyklopädisch anmutenden Anspruch an die Erfassung sehr heterogener Daten aus unterschiedlichen Quellen. Erst die Reduktion auf die Erfassung bereits vorhandener Daten und auf die Mortalitätsstatistik und Morbiditätsstatistik ermöglichte die erfolgreiche Etablierung einer reichsweiten und entsprechend interpretierbaren Medizinalstatistik. Diese wiederum war von unmittelbarem Nutzen für die Reichsbehörden, indem sie durch ihre wissenschaftlichen Aussagen gewisse Massnahmen legitimierten (beispielsweise die umstrittene Pockenschutzimpfung).

Wie vorsichtig aber mit der Interpretation von statistischen Erhebungen umgegangen werden muss, zeigt der Beitrag von Lukas Boser und Michèle Hofmann. Mit der Durchsetzung des obligatorischen Schulbesuchs wurde die Schule im Rahmen der Hygienebewegung als wissenschaftliches Untersuchungsfeld entdeckt. Die Statistik wurde dabei als Methode angewandt, um die potentiellen Gefahren für die Gesundheit der Schulkinder aufzudecken. Dass es problematisch beziehungsweise nicht statthaft ist, von einer Korrelation auf eine Kausalität zu schliessen, zeigt sich gut am Beispiel der Kurzsichtigkeit, die erst im Schulalter auftritt und deshalb als «Schulkrankheit» deklariert wurde.

Manchmal erfüllen Statistiken die ihnen zugedachte Aufgabe aber auch mehr schlecht als recht, wie Hajo Frölich in seinem Beitrag argumentiert. Mit der Erhebung von Schulstatistiken beabsichtigten die Behörden im chinesischen Kaiserreich die staatliche Zentralisierungspolitik zu stützen. Dies gelang nicht, denn zwar wurden als Kunstgriff Diagramme eingeführt, doch die nachfolgenden Tabellen enthielten Leerstellen, welche die offenkundigen Defizite verdeutlichten. Und obwohl die Zunahme von statistischen Erhebungen im Rahmen der zunehmenden Bürokratisierung als Normalfall erscheinen mag, belegt der Beitrag von Christina Rothen und Thomas Ruoss, dass es je nach politischem Kontext auch zu Redimensionierungen der statistischen Tätigkeit kommen kann. Ihr Beitrag über die Schulstatistiken der Schweizer Kantone Bern und Zürich zeigt zudem, dass Statistiken nicht nur als Herrschaftsinstrument eingesetzt werden, sondern auch der Kontrolle staatlichen Handelns dienen können.

Ein zentrales Objekt und Ausgangspunkt von statistischen Erhebungen überhaupt ist die Demografie. Anhand der Untersuchung der Volkszählung von 1869 im Habsburgerreich legt Wolfgang Göderle dar, wie die Umsetzung des Zensus dazu beitragen konnte, das Reich neu als modernen Vielvölkerstaat zu positionieren. Die vom Chinesen Liang Qichao 1897 verwendete Zahl «400 Millionen» für die chinesische Gesamtbevölkerung beruhte indes teilweise auf Berechnungen und ausländischen Schätzungen und war offensichtlich ungenau und falsch. Dennoch entwickelte die Zahl eine mächtige Wirkung und wurde sogar 1944 noch zitiert. Andrea Bréard erklärt in ihrem Beitrag dazu eindrücklich, wie «statistisch produzierte Zahlen in Narrative eingebettet sind, die mit historischen Prozessen und kulturellen Translationen in Wechselwirkung stehen» (S. 231). Der letzte Beitrag des Bandes, der sich mit demografischen Statistiken befasst, beleuchtet den Unterschied zwischen einer reinen statistischen Erhebung und einer Umfrage. Am Beispiel des 1965/1966 durchgeführten Survey zum Reproduktionsverhalten der türkischen Bevölkerung arbeitet Heinrich Hartmann heraus, wie insbesondere bei Umfragen allein die Fragestellung bereits das Ergebnis einer Datensammlung beeinflussen kann.

Wie schwierig die internationale Vergleichbarkeit von Statistiken zu erreichen ist, geht aus den beiden Beiträgen von Theresa Wobbe und Martin Bemmann hervor. In ihrer Untersuchung zu Repräsentationen der Arbeitswelt zeigt Wobbe, wie neue Standardisierungen unumgänglich sind, um Kommensurabilität auf internationaler Ebene zu erlangen. Die Kompilierung und Auswertung nationaler Statistiken reichte deshalb oft nicht mehr aus und so entstanden im Rahmen der Arbeit des Völkerbundes in den 1920er Jahren neu Weltwirtschaftsstatistiken mit einheitlichen Klassifikationsstandards, welche durch die International Labour Organisation (ILO) entwickelt wurden. Martin Bemmann argumentiert in seinem Artikel zu diesen globalen Statistiken, dass nicht zuletzt die weltwirtschaftlichen Krisen jener Zeit das Interesse an verlässlichen und vergleichbaren Informationen über internationale und globale wirtschaftliche Strukturen zunehmen liessen (S. 217).

Wie bereits erwähnt, entspricht der untersuchte Zeitraum nicht ganz demjenigen, der im Untertitel des Bandes erscheint. Gerade auch aus schweizerischer Sicht kommt das 18. Jahrhundert zu kurz, nicht zuletzt fehlt der Aspekt, dass Demografie damals noch Herrschaftswissen war und die Obrigkeit die Veröffentlichung entsprechender Daten durch statistisch tätige Pfarrherren (Jean-Louis Muret, Johann Heinrich Waser) streng ahndete. Für das 19. und 20. Jahrhundert aber bietet der Tagungsband einen fesselnden und vielseitigen Zugang zur Kulturgeschichte der Statistik. Aspekte wie die Wirkungsmacht der Statistik durch ihre Kategorisierungen, ihr Einfluss auf die Problemwahrnehmungen sowie die Grenzen der Machbarkeit und Vergleichbarkeit bei der Durchführung statistischer Erhebungen werden an den vorgelegten historischen Beispielen eindrücklich verdeutlicht.

Zitierweise:
Gerber-Visser, Gerrendina: Rezension zu: Haas, Stefan; Schneider, Michael C.; Bilo, Nicolas (Hg.): Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart, 2019, zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (1), 2020, S. 138-140. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00054>.